Zur Geschichte der WJG

Am 30. Oktober 1867 fand die konstituierende Generalversammlung der Wiener Juristischen Gesellschaft statt. Die Gesellschaft hatte sich zum Ziel gesetzt, das Recht in Wissenschaft und Praxis zu fördern und die Kenntnisse des Rechts unter den Praktikern des Rechts zu verbreiten. Durch Vorträge und Diskussionen aus allen Zweigen des Rechts sollten die verschiedenen juristischen Berufszweige Kontakt finden und die Verbindungen zwischen den Juristischen Praktikern und den rechtswissenschaftlichen Theoretikern aufrecht erhalten werden. In der Juristischen Gesellschaft gehaltene Vorträge haben weit über den Kreis hinaus Wirkung geübt und Erfolge erzielt.

Auszug aus der Rede von Herrn Präsident Holzinger anlässlich der Festveranstaltung

Vorrangiges Anliegen der Wiener Juristischen Gesellschaft ist die Förderung des Rechts und seiner Entwicklung in Theorie und Praxis. Mit ihren Vortragsveranstaltungen will die Vereinigung Juristinnen und Juristen, gleich aus welchem Rechtsberuf sie kommen und gleich welcher Generation sie angehören, ein Forum für den fachlichen Diskurs juristischer und rechtspolitischer Fragen bieten, aber auch die Pflege des kollegialen Kontaktes zwischen den Angehörigen der verschiedenen Rechtsberufe ermöglichen. In diesem Bemühen trifft sich unsere Vereinigung mit dem gleichartigen zivilgesellschaftlichen Engagement der Juristischen Gesellschaften in den anderen österreichischen Bundesländern.

Die Wiener Juristische Gesellschaft will ihren Vereinszweck der Förderung des Rechts und seiner Entwicklung in Theorie und Praxis vor allem durch die Durchührung von Vortragsveranstaltungen zu juristischen und rechtspolitischen Themen erreichen.

Die Wiener Juristische Gesellschaft wurde im Jahr 1867 gegründet. Sie wird also in wenigen Jahren ihr 150. Bestandsjubiläum feiern. Eine von Walter Barfuß im Jahre 1992 aus Anlass des 125-jährigen Jubiläums der Gesellschaft herausgegebene Festschrift weist bis dahin mehr als tausend Vortragsveranstaltungen nach. Die Liste der Vortragenden liest sich wie eine Ehrentafel sämtlicher Größen der österreichischen Jurisprudenz des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Rudolf von Jehring, Georg Jellinek und Hans Kelsen um nur einige wenige zu nennen finden sich darin ebenso wie Adolf Exner, Julius Ofner oder Heinrich Klang. Das macht die immense Bedeutung dieser Vereinigung für das Rechtsleben in unserem Land durch all die Jahrzehnte ihres Bestandes deutlich. Walter Barfuß hat mit seinem Wirken in der Wiener Juristischen Gesellschaft dieses große Erbe bewahrt und in unsere Zeit fortentwickelt. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Generalsekretär der Vereinigung bekleidete er in den Jahren von 1987 bis 2013, also mehr als ein Vierteljahrhundert hindurch die Funktion des Präsidenten der Wiener Juristischen Gesellschaft. Er hat diese Vereinigung und ihre Aktivitäten in diesen vielen Jahren seiner Präsidentschaft ganz entscheidend geprägt.

 

Kampf ums Recht

Rudolf von Jhering

Meine hochverehrten Herren!

Wenn ich meinen Vortrag mit der Bemerkung eröffne, da ich ein gewisses Gefühl der Befangenheit nicht begeistern kann, so bin ich allerdings gefat darauf, da die bei manchen Herren einem ungläubigen Lächeln begegnen wird; ich würde dasselbe für vollkommen berechtigt halten, wenn ich mir ein Thema erwählt hätte, das ich gewohnt bin, seit Jahren zu behandeln; und in der That, wenn ich noch im jetzigen Momente die Wahl hätte, ein Thema aus den Pandekten, aus der römischen Rechtsgeschichte oder Ähnliches zu wählen, ich würde es tun. Ich habe mich aber, meine Herren, bei der Wahl des Themas von einem anderen Gesichtspunkte leiten lassen; ich habe geglaubt, aus Rücksicht gegen Sie schuldig zu sein, ein Thema zu wählen, das meines Wissens bisher weder von Anderen behandelt wurde, noch habe ich es selber bisher behandelt, und zugleich ein Thema, über das einem Jeden von Ihnen ein Urteil freisteht, ein Thema, das, ich möchte sagen, aus den Grenzen der Jurisprudenz hinausfällt, über das einem Laien ebenso ein Urteil zusteht, als dem Juristen.

Ich habe das Thema bezeichnet als „Der Kampf um das Recht“ und bin vielleicht in der überglücklichen Lage, ein Thema hinzustellen, über dessen Inhalt Sie sich gar keine Vorstellung machen können.

Unsere gewöhnlich herrschende Vorstellung pflegt den Begriff des Rechtes an die Vorstellung des Friedens, der Ruhe, der Ordnung zu knöpfen, und diese Vorstellung ist in der That nach einer Seite hin vollkommen berechtigt; sie ist ebenso berechtigt, sie ist ebenso wahr, wie die Vorstellung des Eigenthums als Mittel des Genusses. Aber dieser Seite entspricht eine andere. Beim Eigenthum ist die Kehrseite des Genusses die Arbeit, und beim Rechte ist die Kehrseite des Friedens und der Ruhe der Kampf. Nach Verschiedenheit der Lebensstellung, ja ich möchte sagen, nach Verschiedenheit der historischen Zeitalter, tritt bei beiden Begriffen bald die eine, bald die andere Seite mehr hervor.

Dem reichen Erben, der sein Eigenthum mühelos erworben hat, dem ist Eigenthum nicht Arbeit, Eigenthum ist ihm Genuß; aber dem Arbeiter, der täglich erinnert wird an die Mühseligkeit des Erwerbes, dem ist Eigenthum Arbeit.

Und so ist es auch beim Rechtsbegriffe. Dem Laien, der nicht in das Getriebe des Rechts eingeweiht ist, der glücklicherweise davon verschont geblieben ist, dem Laien mag immerhin das Recht, der Friede, die Ordnung sein; Sie, meine Herren, praktisch erfahrene Juristen, Sie wissen es anders, Sie wissen, dass das Recht zugleich ein Kampf ist, und dass Sie berufen sind, bei diesem Kampfe hilfreiche Hand zu leisten.

Von diesen beiden Auffassungen nun ist es gerade die eine, dass das Recht vorzugsweise die Ruhe, die Ordnung, der Friede sei, welcher unsere romanistische Wissenschaft vorzugsweise Geltung erworben hat. Wenn ein junger Mensch aus den Vorlesungen über römisches Recht ins praktische Leben tritt, so wird er etwa von folgenden Vorstellungen erfüllt sein: das Recht entwickelt sich, (wie es Savigni dargestellt hat wie die Sprache aus dem Volksgefähle heraus; die vollen Ideen des Rechtes, die brechen sich von selbst Bahn, d. i. das Gewohnheitsrecht; es ist das also die Macht der rechtlichen Ueberzeugung, die sich hier bewährt hat. Dass diese Ueberzeugungen aber einen Kampf zu kämpfen haben, der bei der Entwicklung der Sprache und ebenso der Kunst gar nicht stattfindet, das tritt bei seinen Vorstellungen in den Hintergrund. Ganz dasselbe wiederholt sich bei der Theorie der gesetzlichen Kraft. Die gesetzliche Kraft ist das Produkt der organisatorischen Weisheit; dass aber die Geburt des Gesetzes mit den allerhöchsten Schwierigkeiten, unter größten Wehen, im steten Kampfe gegen friedliche Interessen erfolgt, davon ist in unserer Theorie gar nicht die Rede.

Und doch, meine Herren, wir gerade in der Gegenwart brauchen ja nur einen Blick zu werfen auf die Welt, die uns umgibt, um zu sehen, wie das Recht ein unausgesetzter Kampf ist.

Jede Wahrheit, die auftritt, hat nicht bloß Irrthum, sondern auch Interessen zu bekämpfen; jeder Wahrheit stellen sich sofort unzählige Sonderinteressen entgegen. Jede Rechtsänderung (ich meine natürlich nicht Aenderungen unbedeutender Rechtsnormen) erfordert ebenso einen Kampf gegen die bestehenden Interessen. Denn das bestehende Recht hat sich sofort mit tausenden von Interessen verbunden, mit tausenden von Wurzeln hängen die bestehenden Rechtssätze mit der Wirklichkeit zusammen, und wenn jetzt ein neuer Rechtssatz auftritt, so handelt es sich nicht bloß um Wahrheit, sondern zugleich um einen Kampf des neuen Rechtssatzes gegen bestehende Interessen. Und so kann man denn sagen: alle Rechtssätze haben ihren Weg über zertretene Interessen genommen, die Interessen haben geopfert werden müssen, damit der neue Rechtssatz entstehen könne. Ich behaupte also: das Recht entsteht nicht wie die Sprache, nicht schmerzlos, nicht im Wege bloßer Ueberzeugung, sondern es wird geboren mit Schmerzen, und gerade darauf, dass es mit Schmerzen geboren wird, wie das Kind bei der Mutter, gerade darauf beruht diese Kraft, die sich hinterher dem Rechte zuwendet. Der Rechtssatz, der von uns nicht erkämpft werden mußte, der hat für uns nicht den vollen Werth; nur der Gedanke, dass wir ihn selbst errungen haben, nur dieser Gedanke schlingt zwischen uns das sittlich Band, das uns veranlant, für diesen Rechtssatz ganz einzutreten.

Meine Herren! Es ist nun nicht meine Aufgabe, diesen Gedanken, wie das Recht stets zu kämpfen habe, hier durchzuführen; ich werde also nicht sprechen von der Bildung des Rechtes, obschon Sie mir gestattet haben, einen Seitenblick darauf zu werfen, sondern ich werde sprechen von der Verwirklichung des Rechts, u.z. von der Verwirklichung des einfachen Privatrechtes, oder wie ich es bezeichnet habe, von dem Kampfe um es Recht.

Dieser Kampf meine Herren, wie er heute stattfindet, scheint von vornherein kein hohes Interesse darzubieten. Vergleichen wir die Form, in der dieser Kampf heutzutage stattfindet, mit der Form, in der jene gewaltigen Kämpfe im Völkerleben stattfinden. Betrachten wir jene Kämpfe, so handelt es sich um Geschicke der Staaten, der Menschheit; hier handelt es sich um Mein und Dein, welches Interesse kann ein solcher Kampf uns darbieten?

Und doch glaube ich, meine Herren, Ihnen den Nachweis bringen zu können, dass wir mit Unrecht diesen Kampf geringschätzen würden, dass er eine ethische, ja sogar eine poetische Bedeutung beanspruchen kann.

Die Verwirklichung des Privatrechtes geschieht bekanntlich rein durch die Thätigkeit der berechtigten Person. Während beim öffentlichen Rechte es die Organe des Staates sind, denen diese Verwirklichung als Pflicht zufällt, so ist es beim Privatrechte Sache der Individuen, ihr Recht geltend zu machen oder es fallen zu lassen. Von dieser ihrer Thätigkeit aber hängt in Wirklichkeit die Realität des Privatrechtes im abstrakten Sinne ab. Das Verhältniß zwischen dem Rechte im abstrakten und konkreten Sinne wird von unserer Wissenschaft meines Erachtens höchst einseitig so aufgefaßt: Das Recht im abstrakten Sinne ist die Voraussetzung des konkreten Rechtes, die Möglichkeit des Rechtes ist im Gesetze gegeben, und diese Möglichkeit verwirklicht sich, sowie die Bedingung hiezu eintritt.

Allein, so gut wie das Privatrecht bedingt ist durch das Dasein eines abstrakten, des abstrakten Rechtes, so ist auch die Wahrheit, die Realität, die Herrschaft des abstrakten Rechtes bedingt durch die Thätigkeit, die innerhalb der konkreten Sphäre stattfindet. Mit anderen Worten: Wenn die einzelnen Individuen das Recht nicht verwirklichen, wenn sie nicht den Muth haben, es zu verwirklichen, so ist das abstrakte Recht ein Schein, besteht nur auf dem Papiere, findet nicht seine Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit erhält es dadurch, dass es eintritt, wenn das Privatrecht verletzt wird.

Insoferne kann man sagen, jeder Einzelne habe die sittliche Aufgabe mitzuwirken an der Wahrheit und dem Rechte im Allgemeinen, jeder einzelne sei für seine beschränkte Sphäre der Wächter und Vollstrecker des Gesetzes.

Nun, meine Herren, wohin würde es führen, wenn, sei es, weil die Staatseinrichtungen diesen Kampf erschweren, sei es aus anderen Gründen, ein bedeutender Bruchtheil eines Volkes nicht mehr den Muth hat, sein Privatrecht zu verwirklichen? Es würde dahin führen, dass dem Einzelnen, der den Muth hat, seine Aufgabe zu erfüllen, dieselbe unendlich erschwert wird. In demselben Maße, wie die übrigen zurückgehen, füllt auf den Einzelnen eine ungleich schwerere Last. Ich möchte es vergleichen mit der Flucht in der Schlacht; wenn Alle im Kampfe zusammenstehen, haben sie die Stätze an sich; sowie Einer sich zurückzieht, so wird die Aufgabe der Zurückbleibenden immer bedenklicher. Es liegt in der Aufgabe des Einzelnen, sein Recht zu verwirklichen, und erfüllt er diese Aufgabe nicht, so gibt er nicht bloß sein eigenes Interesse auf, sondern das Interesse der Gemeinschaft.

Nun, meine Herren, Sie können mich fragen, wozu solche Pflichten aufstellen, den Menschen noch erst auffordern, sein Recht geltend zu machen, das thut er ja ohnehin, sein Interesse bestimmt ihn hinlänglich; glücklicherweise liegt jedem Rechte ein Interesse zu Grunde, und das Interesse ist mächtig genug, diesen Kampf aufzunehmen. Ist aber das Interesse das einzige Motiv, das uns in den Kampf ums Recht treibt? Das leugne ich.

Meine Herren! Wenn mir ein Objekt im Werthe von 10 fl. verloren gegangen ist, so werde ich keine 11 fl. daran setzen, um die Sache wieder zu finden. So würde ich, wenn es reine Frage des Interesses wäre, auch wenn ein Objekt von 10 fl. in Frage steht, keine Auslage von vielleicht 100 fl. daran wenden, um mir dieses Objekt wieder zu verschaffen. Und doch zeigt uns die tägliche Erfahrung das Gegentheil, und Niemand ist besser in der Lage, es besser zu beurtheilen, als Sie, meine Herren. Nun, wir finden hier, dass Jemand einen Prozess übernimmt wegen eines unbedeutenden Objektes, und mancher nächterne Mann, der für diese Auffassung des Rechtes kein Verständniß hat, nennt einen solchen Mann einen „Streitsüchtigen“ und begreift es nicht, wie der solche Opfer an Anstrengung und an Geld daran wenden mag, um einen Gegenstand von 2 bis 10 fl. zu retten.

Ja, meine Herren, das einfache Rechtsgefühl begreift es sehr gut; was da geschieht; der Mann will sein Recht haben, und dieser moralische Erfolg ist es, der ihn treibt, die zehn Gulden sind blos die äußere Veranlassung.

Darum werden wir es völlig begreiflich finden, wenn ein solcher die Aufforderung, dass ihm der Gegenstand seines Rechtes ersetzt werde, einfach zurückweist. Mir sind Fälle bekannt aus der patriarchalischen Zeit der Justiz, dass ein bequemer Amtmann, dem die Entscheidung von Prozessen lüstig war, bei unbedeutenden Streitobjekten dem Klüger stets das Objekt offerirte, aus eigenem bezahlte, und dadurch gleich den Prozess entschied. Meine Herren, ich würde diesen Betrag zurückgewiesen haben, ich will mein Recht haben! Worauf beruht dieses Verlangen nach seinem Rechte? Das bringt uns auf die Frage vom Zusammenhange des Rechtes mit der Person. Nach meiner Auffassung ist das Recht ein Stück der Person selbst, es ist hervorgegangen aus der Person; es ist meine Arbeit, wie sich auch die Arbeit darstellt, in diesem Objekte liegt ein Stück von mir selber; es gehürt zur Peripherie meiner Rechte, es ist sozusagen meine erweiterte Kraft, meine erweiterte Persönlichkeit, ich bin es selbst.

Nun gut. Wenn auf eins der Stücke, welche die Peripherie meiner Rechte bilden, ein Schlag geführt wird, so empfindet es das zentrale Organ, die Persönlichkeit selbst, und hier tritt das pathologische Moment des Rechtes hervor: das Recht wird verletzt, und dieser Zustand bringt das wahre Wesen des Rechtes erst zur vollen Einsicht. Wie den Mediziner gerade die pathologische Affektion gewisser Organe erst über die wahre Bedeutung dieser Organe aufklärt, so bringt, meine Herren, auch für uns Juristen die Verletzung des Rechtes das wahre Leben und den wahren Zusammenhang des Rechtes mit der Person zum Vorscheine. So wie also dieses Recht als solches verletzt wird, teilt sich der Schlag der Persönlichkeit mit, sie reagiert dagegen, es ist eine Rechtskränkung, die Person wird herausgefordert.

 

Es liegt auf der Hand, dass nach Verschiedenheit der Verletzung des Rechtes die Reaktion selbst eine verschiedene ist, heftig oder minder heftig. Es gibt zuletzt eine Art der Verletzung, bei der die Person dieses Gefühl ganz überwinden kann. Ich nehme den Fall, das Objekt wäre abhandengekommen; hier ist es für mich keine Frage der Persönlichkeit, ob ich etwa die Indikation anstellen will, hier ist es eine reine Sache des Kalküls; ich vergebe mir und meinem Rechte nichts dadurch, dass ich von diesem Prozesse zurücktrete.

 

Ganz anders aber, wenn mit dem objektiven Unrechte eine persönliche Schuld des Gegners sich verbindet, das Wissen des Unrechts, die Absicht, mich zu verletzen. Dann gilt die Verletzung nicht mehr bloß der Sache, und es handelt sich nicht mehr um eine Interessenfrage, sondern um meine Persönlichkeit, und es ist eben ein Zeichen der Feigheit, wenn ich den Kampf ablehne. Meiner Ansicht nach ist es in einem solchen Falle, wo das Recht absichtlich gekränkt wird, eine Pflicht der Person gegen sich selber, eine Pflicht gegen das Gemeinwesen, diesen Kampf anzunehmen. Der Einzelne erscheint als Vertreter des Staates dem Unrechte gegenüber, ihm ist die Aufgabe zugewiesen, das Unrecht in seine Schranken zurückzuweisen.

 

Ist es aber, meine Herren, bloß etwa die Person, die hier getroffen ist Worauf beruht die gerechte sittliche Entrüstung, das Unvermögen, diesen Schmerz zu überwinden Ist es bloß eine gewöhnliche persönliche Kränkung nein! Es ist der Gedanke, dass zugleich immer das Recht selber, das Recht, die Majestät des Rechtes getroffen, verhöhnt, verletzt ist. Also es teilt sich dieser Schlag von dem zunächst getroffenen Objekte der Person, und von dieser dem Rechte mit. Diese Person steht dann also für das Recht selber ein, und gerade dieser Gedanke wird in solcher Weise den Affekt hervorrufen. Unsere Dichter haben ja mehrfach diesen Stoff behandelt; ein deutscher Dichter, Kleist in „Michel Kohlhaas“ zeigt uns den Menschen im Kampfe mit dem Unrechte, eines der tragischsten Momente, die ich kenne, er unterliegt, der Mann, mit der ganzen Person den schlechten Einrichtungen in meinen Augen ein tragisches Schicksal. Ebenso ist es in dem „Kaufmann von Venedig“, mit Shylok; er will sein Recht haben und ganz Venedig soll es ihm nicht nehmen; er bricht zuletzt ebenso tragisch zusammen, als er diesen Kampf nicht auskämpfen kann.

 

Nun, meine Herren, diese Empfindlichkeit der Person, die wir also, wenn ihre Rechte getroffen sind, als die Empfindlichkeit des Rechtsgefühls bezeichnen können, diese Empfindlichkeit ist bei den Individuen sehr verschieden, so auch nach Verschiedenheit der Zeiten bei den einzelnen Völkern. Ich habe mir öfter die Frage vorgelegt, worauf beruht die? Hängt es mit der Volksindividualität zusammen, ist es eine Verschiedenheit der nationalen Auffassung nein! Ich bin zu dem Resultate gekommen, dass es zusammenhängt mit der Verschiedenheit der Bewertung des Eigentums.

 

Es ist nicht einem jeden Geschlechte, und nicht einem jeden Individuen das Eigentum in gleicher Weise wert: die Bewertung beruht wesentlich mit auf dem Erwerbe des Eigentums. Ein arbeitendes Volk, das mühsam ringen muss mit der Natur, mit dem Boden, um seine Existenz sich zu sichern, wird täglich an die Bedeutung des Eigentums erinnert. Ihm erscheint das Eigentum als ein Niederschlag vieler Arbeit, vieler Entbehrung, vieler Mühen. Im Eigenthume und in dem Angriffe auf das Eigenthum erblickt es also in ganz anderem Maße die Person selbst verletzt, als eine Zeit, die in verhältnismäßig leichterer Weise das Eigenthum erwirbt. Nehmen wir die Jetztzeit an, den Gegensatz zwischen Stadt und Land. Denken wir uns den Stadtbewohner und den Bauer auf dem Lande, u. z. in gleichen Vermögensverhältnissen, so bin ich fest überzeugt, dass beide das Geld mit ganz anderen Augen ansehen werden. In der Stadt, wie etwa in Wien, bestimmt sich die Art der Schätzung nicht nach Leuten, die schwer arbeiten, sondern nach Leuten, die verhältnismäßig die Sache leichter verdienen, und diese Schätzungsweise, die wird nachher maßgebend für den allgemeinen Preis. Umgekehrt auf dem Lande, wo jeder weiß, wie schwer das Geld zu verdienen ist, da ist die Schätzung des Eigenthums eine völlig andere, selbst für Diejenigen, die nicht in dieser Weise arbeiten. Und so, meine Herren, ist es auch für die verschiedenen Zeiten. Unsere heutige Zeit wird die Eigenthumsverbrechen in ganz anderer Weise betrachten, wie das alte Rom. In dem alten Rom hat die Arbeit, möchte ich sagen, die Strafe diktiert, bei uns ist eine ganz andere Auffassung maßgebend.

 

Es bestimmt sich also das Maß der Reaktion bei der Verletzung des Rechtes einmal nach der Art des Angriffes, sodann nach diesem zweite hervorgehobenen Gesichtspunkte, nach der Nähe oder Ferne des Eigenthums zur Person.

Es ergibt sich aus dem Bisherigen, dass dieser Kampf, den das Subjekt zu kämpfen hat für das Objekt, nicht bloß für das Subjekt selber eine Frage der sittlichen Zufriedenheit ist, sondern da er ebenso für das Gemeinwesen von äußerster Wichtigkeit ist. Für das Subjekt ist es eine Frage der moralischen Selbsterhaltung, seine Achtung ist dadurch bedingt, dass es sich das Zeugnis ausstellen kann, dass es in einer solchen Lage, wo es gereizt worden ist nicht feige zurückgetreten. Den Wert dieses Kampfes für das Gemeinwesen habe ich bereits früher des Näheren angegeben. Daraus ergibt sich, dass der Staat die dringendste Pflicht hat, dieses Gefühl des Individuums, das kräftige Rechtsgefühl in jeder Weise zu nähren. Es beruht in letzter Instanz hierauf die Sicherheit, die Verwirklichung des Rechtes.

 

Dazu gesellt sich ein anderer Gesichtspunkt. Im Privatleben muss sich die moralische Kraft ausbilden, da muss das Rechtsgefühl seine Schule bestehen und durchmachen, damit es in einer höheren Region, in der staatlichen Notwehr gut bestellt sei. Ein Volk, das eben in der niederen Region des Privatrechtes nicht den Mut hat, einen gerechten Kampf zu kämpfen, das wird auch da nicht den Mut haben, zu kämpfen, wo es um den Staat gilt, um die Macht des Staates.

 

Für die politische Pädagogik ist es die wichtigste Aufgabe, das Rechtsgefühl im Privatleben zu pflegen, denn daraus geht schließlich die ganze moralische Kraft hervor, die später die Geschicke der Staaten bestimmt.

 

Nun in welcher Weise kann denn der Staat, das Gesetz dieses Rechtsgefühl pflegen?

 

Darauf will ich die Antwort geben, indem ich jetzt einen Blick werfe auf das römische Recht. Meiner Ansicht nach soll die Gesetzgebung diesen Kampf nicht bloß durch prozessualische Einrichtungen erleichtern, sondern vor allem dadurch, dass sie dieser gerechten Indignation Genüge leistet. Das Gesetz soll also da, wo das Objekt angegriffen ist, in seinem Rechte eine Rechtskränkung erlitten hat, sich nicht bloß beschränken, den Schaden gutzumachen, ganz sowie im Falle des objektiven Unrechtes, sondern es soll diesen Fall der Kränkung als ein qualifiziertes Unrecht erfassen, und zwar auch privatrechtlich, soweit eben nicht Kriminalstrafen eintreten können, damit dem gekränkten Rechtsgefühle auch in diesem Verhältnisse Genüge geschehe. Ich will jetzt nachweisen, wie die im römischen Rechte geschehen ist.

 

Im älteren röm. Recht ist die in dem Maße geschehen, dass hier bei einem Unrechte kaum unterschieden wird, ob den Gegner ein Verschulden trifft oder nicht, ob der Mann, der ein Recht verletzte, die auch gewusst oder beabsichtigt hat, ob er durch Schuld, culpa, einen Eingriff in mein Recht vorgenommen hat; das ist gleichgültig. Das alte römische Recht unterscheidet nicht zwischen moralisch seiner Zurechnung, ob Schuld, culpa, culpa lata oder levis, sondern ihm genügt es, dass mir der Mann genommen, was mir gehört, dass er es jedenfalls hat, und es mir nicht herausgeben will. So also werden hier selbst Fälle des bloßen objektiven Unrechts, wie ich es bezeichnet habe, ganz mit denselben Strafen belegt, wie die des subjektiven Unrechtes. Nach älterem römischen Rechte musste der Beklagte bei der vindicatio, wenn er unterlag, die doppelten Früchte zahlen; dabei wurde nicht gefragt, ob er gewußt hat oder nicht, dass er meine Sache mir vorenthält. Ebenso geht bei der Eviction der Evictions Spruch stets auf das Doppelte; dabei wird nicht gefragt, ob mein Vormann gewusst hat, dass er mir eine fremde Sache verkaufe; er hat sie mir verkauft, er zahlt mir das Doppelte. Ich habe bei einer anderen Gelegenheit solche Fälle zusammengestellt, und kann, was das ältere römische Recht anbetrifft, sagen, dass es über das Maß der gerechten Berücksichtigung des Affektes weit hinausging.

 

Ich wende mich dem mittleren römischen Rechte zu. Hier treffen wir ein volles Gleichmaß; es unterscheidet genau zwischen voller Verschuldung, dolus, culpa lata, culpa levis, bona, mala fides, und es legt überall Nachdruck darauf, wie der Beklagte sich zu mir verhalten habe. Es tritt diese Rücksicht bei allen Verhältnissen ein; bei der vindicatio, bei den Obligationen, überall tritt diese Berücksichtigung des pathologischen Momentes hervor, welches beabsichtigt, dem Verletzten Genüge zu leisten.

 

Ich will einige Beispiele aus dem römischen Prozesse dieser Zeit anführen: Ich fordere mein Darlehen zurück, der Beklagte bestreitet es mir; lässt er es auf einen Prozess ankommen, so zahlt er mir zur Strafe ein Drittel mehr. Der Beklagte hat versprochen, zur bestimmten Zeit sicher zu zahlen, ich habe ihm Aufschub gewährt, er hält sein Wort wieder nicht zu; zur Strafe zahlt er mir die Hälfte mehr.

 

In gewissen anderen Verhältnissen, wo der Beklagte wissen muss, ob meine Klage gegründet ist oder nicht, z. B. bei der actio legis Aquiliae zahlt er das Doppelte, wenn er lugnet. So auch in den Verhältnissen, die das römische Recht als besondere Vertrauensverhältnisse bezeichnet: Mandat, Sozietät, Depositum, Vormundschaft. Lässt es mein Gegner auf den Prozess ankommen, und ich weise ihm nach, dass er wirklich das Unrecht verschuldet, so trifft ihn die Strafe der Infamie.

 

So kennt das römische Recht eine Reihe von derartigen Strafen, die berechnet sind, den Beklagten für sein wissentliches Unrecht zu strafen. Gerade der römische Prozess ist besonders reich an derartigen Strafen. Eine interessante Erscheinung in dieser Richtung bieten die prätorischen Interdikte dar, namentlich die interdicta prohibitoria.

 

In gewissen Fällen erließ der Prätor bekanntlich ein Interdikt, namentlich ein prohibitorisches: vim fieri veto. Bisher mochte die Sache zwischen beiden Parteien mehr eine Frage des objektiven Unrechts sein; von jetzt an, sowie der Prätor sein Verbot erlassen hat, ändert sich die Sache; wer jetzt noch seinen Widerstand fortsetzt, richtet damit seinen Widerstand gegen den Prätor selbst; der Prätor als Vertreter des Rechts schiebt sich vor die verletzte Person. Dem Gegner ist jetzt die Wahl geboten, zurückzutreten oder nicht; der Prätor sagt: trittst Du nicht zurück, so wisse, dass es sich nicht mehr um die Frage des Rechts oder Unrechts, sondern um eine offenbare Rechtsverletzung handelt. Ein ähnliches Institut des römischen Rechtes ist das arbitrium judicis. Bei manchen Ansprächen erkannte der römische Richter nicht sofort mit der Sentenz auf Geld, sondern er schickte ein Arbitrium voraus; es war ein Versuch zur Güte, wenn ich so sagen darf, sein Urtheil ging auf Naturalrestitution, und es stand beim Beklagten, ob er diesem Rathe folgen wolle oder nicht. Allein der Richter hat ihm jetzt seine Anschauung, sein Urtheil über die Sache mitgetheilt, und jetzt fällt jeder Widerstand unter einen ganz anderen Gesichtspunkt. Der Beklagte kann sich nicht entschuldigen, er habe nur sein Recht zu verfechten geglaubt, und kommt er jetzt der Auflage nicht nach, dann trifft ihn die Strafe, welche darin besteht, dass der Kläger zum juramentum in litein zugelassen wird.

 

Wie sehr nun, meine Herren, die Römer diesen Gesichtspunkt, das Interesse des Gegenstandes und das Interesse der Rechtskränkung, jenes pathologische Interesse scharf unterschieden haben dafür haben wir einen Beleg in der bekannten Kathegorie von Klagen, in den actiones vindictam spirantes: Injurien Klagen, Widerruf einer Schenkung wegen Undankbarkeit, und vor allen am interessantesten die quaerela inofficiosi testamenti. Diese Klage bezweckt die umstoung des Testaments, die Beseitigung einer Lieblosigkeit von dem Erben; nicht das Geld ist es, das der Klüger erhalten soll, sondern die Kränkung, die der Vater ausgeübt hat, die soll ausgeglichen werden, und die Klage hat den Zweck, dieser Indignation Genüge zu leisten. Dieser Gesichtspunkt ist besonders dadurch betont und markiert, dass diese Klagen auf die Erben gewöhnlich nicht übergehen. Ihre Zulässigkeit hängt davon ab, dass der Verletzte die Verletzung als solche empfinden muss; anerkennt er die Injuria, geschieht es, dass er sich durch die Injuria nicht getroffen fühlt, so kann er sie nicht geltend machen; er kann die quaerela inofficiosi, sobald er sich nicht gekränkt fühlt, nicht anstellen. Darauf beruht es, dass diese Klagen erst durch die litis contestatio auf die Erben übergehen.

 

So, meine Herren, ist das mittlere römische Recht. In meinen Augen ist das das Ideal. In diesem Rechte fanden die Forderungen des verletzten Rechtsgefühls vollkommene Anerkennung, eben so weit entfernt von jenem Extreme, das uns das ältere römische Recht gezeigt hat, als von der anderen Art der Behandlung, die ich nachher charakterisieren werde. Im mittleren römischen Rechte hat diese Richtung ihren Höhepunkt erreicht. Aber schon in der späteren Kaiserzeit schwächte sich dieses Verhältnis ab; in den Blättern der späteren Rechtsgeschichte steht für den, der lesen kann, verzeichnet, dass die moralische Kraft des Volkes schwach wurde, dass sie erlahmte, dass das knechtische Rechtsgefühl der alten Römer dahin war. Darum ändern sich auch die Rechtssätze. Es verschwindet eine Reihe von jenen früher angedeuteten Strafen. Dem Gläubiger, dem schmählicher Weise die Hingabe des Darlehens abgestritten wird, wird bloß sein Geld gegeben. Der Schuldner, der die Zahlung auf bestimmte Zeit fest zugesichert hat, hat nicht mehr die Hälfte mehr zu zahlen. Es tritt für diese Fälle ganz dasselbe Resultat ein, mag der Beklagte absichtlich bestritten haben oder nicht. Überhaupt zeigt sich die in meinen Augen charakteristische Erscheinung des späteren Rechts, dass es mit dem Schuldner sympathisiert, dass das Recht des Gläubigers in vielen Fällen preisgegeben wird, und das ist das Zeichen einer verkommenen Zeit, (Bravo! anhaltendes Bravo!) wenn der Gesetzgeber aus falschem Wahne das Recht, das feste, gute Recht des Gläubigers hingibt, um den Schuldner zu schonen. (Bravo!)

Das führt zur Kreditlosigkeit, und ich wage nicht, hier meine Ansicht weiter auszuführen, ich würde fürchten, verketzert zu werden, wenn ich hier mit voller Schroffheit dieser Richtung entgegentreten würde, vielleicht bin ich auch nicht kompetent, (Rufe: bitte!) aber meine Ansicht ist es, dass wir auch heutzutage sehr an diesem Fehler leiden. (Stürmische Bravorufe.)

Nun, meine Herren, diese Ihre Bravos ermuthigen mich sehr, jetzt einen letzten Sprung zu machen, nämlich vom justinianischen Rechte auf das heutige Recht überzugehen. Mein Urtheil in dieser Richtung ist ein nicht sehr günstiges; wir sind viel weiter zurückgegangen, als die justinianische Zeit. Im justinianischen Recht finden sich noch manche Einrichtungen, die den obigen Zweck hatten; wir haben nicht die Einsicht oder vielleicht nicht den Muth gehabt, dieselben anzuwenden. Man sieht, ich darf es sagen, unser heutiges Privatrecht ist durch das Filtrum der Gelehrsamkeit hindurchgegangen; der Gelehrte fühlt eben nicht so, wie der Mann des Lebens, wie der Praktiker; man merkt es unserem Privat Rechte der Neuzeit an, dass es von Gelehrten behandelt wurde.

Jene Einrichtungen des römischen Rechts, die noch im justinianischen Rechte vorkommen, hat man einfach fallen gelassen. Die wichtigen Strafen des Leugnens, des frivolen Leugnens, wo sind sie geblieben? Sie figurieren in unseren Kompendien, ebenso wie die Privatstrafen; im Leben kommen sie nicht zur Geltung. Heutzutage ist also der Gläubiger, dem in der schädlichsten Weise die Existenz der Schuld abgestritten wird, in derselben Lage, wie Jemand, der von den Erben des Schuldners die Schuld zurückfordert. Entspricht das der Gerechtigkeit? Das heißt ja, geradezu eine Prämie auf das Leugnen setzen. Im günstigsten Falle zahlt der liebe Mann gar nichts, im ungünstigsten Falle thut er das, was er schon früher hätte thun müssen: er zahlt. Ich will einen Blick werfen auf einen Hauptschaden unserer Rechtspflege, auf die Schadensprozesse. (Bravo)

Ja, ich kann mich nur freuen, dass ich nicht in der Lage bin, einen Schadensprozess anzustellen, (Heiterkeit) weder als Advokat, noch als Beteiligter, nach dem was ich davon weiß. Mein offenes Rechtsgefühl empört sich, wenn ich sehe, in welcher Weise der ganze Schadensprozess darauf angelegt ist, den Gläubiger um sein gutes Recht zu bringen. Wehe dem, der Schaden erlitten hat, er mag klagen oder nicht, er hat immer den Schaden. (Stürmische Bravorufe.) Aber es ist noch eine andere Seite, wo unser Recht der Hilflosigkeit gleichkommt. Ich bin selber in der Lage gewesen, das bitterlich zu fühlen. Es handelte sich um einen Fall mit meinem Dienstmädchen. Sie wollte plötzlich weg, behauptete, sie hätte gekündigt; sie hatte aber nicht gekündigt. Ich konnte nichts thun, keine Hälfe dagegen. Ich suchte Hilfe bei der Polizei; das Mädchen wurde inquirirt und gestand, nicht gekündigt zu haben, wollte aber doch den Dienst nicht fortsetzen; endlich sagte man mir bei der Polizei: „klagen Sie auf das Interesse!“ (Anhaltende Heiterkeit.) Und vor Gerichte? Das Mädchen leugnet, die Polizei ist ein testis singularis, dessen Qualität … (vermehrte Heiterkeit). Da habe ich aber, kann ich sagen, gefühlt diesen Stachel des erlittenen Unrechts, wenn man sein gutes Recht hat und die Einrichtungen des Staates derartige sind, (Bravo!) dass man mit dem besten Willen sein Recht nicht geltend machen, nicht durchsetzen kann. Und diesen Vorwurf mache ich den heutigen Rechtssätzen, sie sind darauf berechnet, dass ein Mann von kräftigem Rechtsgefühle heutzutage geradezu gezwungen ist, jenen Akt der Feigheit vorzunehmen, von dem ich vorhin sprach, sein gutes Recht im Stiche zu lassen.

Ich eile zum Schluss. Ein Bild müssen Sie mir verstatten Ihnen noch vorzuführen, das ist das Bild der Notwehr. Ich freue mich, hier noch einen Herrn anwesend zu erblicken, ja, und noch einen zweiten Herrn*, die mit mir diese Auffassung teilen werden. In der neueren Zeit ist gegen die verkommene Auffassung der Notwehr eine heilsame Reaktion aufgetreten. Die Notwehr in früherer Zeit, was war sie? Ein Übel, das man so viel wie möglich beschränken wollte, und jeder Jurist glaubte ein gutes Werk zu tun, wenn er eine Beschränkung hinzutat. Da kam zunächst der Wert des Gegenstandes in Betracht, also das Maß des Wertes des angegriffenen Objektes und der Wert des Gutes, das ich, der Bedrohte, zu meinem Schutze angreife. Vor allem, meine Herren, möchte ich wissen, wenn der Mann mir auch ein Objekt von 100.000 fl. Entgegenhielte, ob mir meine Uhr, die er mir entreißen will, nicht lieber ist als seine 100.000 fl.? (Große Heiterkeit.) Welche Zumutung, in einem solchen Momente von meinem Standpunkte aus abzuwägen, ob mir die 100.000 fl., von denen ich nichts habe, die er hat, ob die mir wertvoller sein sollen, als meine Uhr! (Anhaltende Heiterkeit und Bravo!) nun, wer zählt alle Beschränkungen der Notwehr auf; man kann sagen, dass man hier bei der Notwehr geradezu die Pflicht der Feigheit wissenschaftlich ausgesprochen hat. (Bravo!) In einer Schrift, einer holländischen, glaube ich, ist ein Fall der Notwehr von Lewis niedergelegt. Ein holländischer Soldat wird angegriffen, der Mann zieht sich zurück ich hätte auch dies nicht getan; der Andere folgt ihm, der Mann geht wieder weiter zurück, endlich hat ihn der Angreifer, der Soldat wehrt sich und schlägt dabei seinen Gegner Todt. Was ist ihm geschehen? Hingerichtet wird er! Meine Herren! Das sind Justizmorde grauenhafter Art, man kann sagen, es ist eine Verkommenheit des Rechtsgefühls, bei der eine einfache Natur sich entsetzen und Fluch aussprechen würde über alle Gelehrsamkeit! (Bravo!) Ja in Bezug, auf die Ehre ist man nun so weit gegangen, dass man nur gewisse Klassen der Gesellschaft für berechtigt erkannte, ihre Ehre zu verteidigen. Offiziere, Männer vom Adel und Standespersonen Kaufleute dagegen haben keine Ehre, die haben sie nicht nötig, ihre Ehre ist ihr Kredit, wenn der nur erhalten wird. (Heiterkeit.)

 

Meine Herren! Lassen wir dies, ich habe mich genug dabei aufgehalten. Wir sehen aber, dass unsere heutige Zeit weit entfernt ist, den Anforderungen, die ich hier aufgestellt habe, zu entsprechen, und dass es die Aufgabe der Zukunft sein muss, ein kerniges, einfaches Rechtsgefühl heimisch zu machen in unseren heutigen Einrichtungen.

 

Ich kann also die Quintessenz meiner Ausführungen dahin aussprechen: Das Preisgeben eines verletzten Rechtes ist ein Akt der Feigheit, der der Person zur Unehre und dem Gemeinwesen zum größten Schaden gereicht, der Kampf für das Recht ist ein Akt der ethischen Selbsterhaltung, eine Pflicht gegen sich selbst und die Gemeinschaft.

 

Ich bin also weit entfernt, mit der neueren Philosophie, mit Herbart, das Recht aus dem Missfallen am Streite hervorgehen zu lassen; davon weit entfernt, will ich mich schuldig bekennen, in diesem obigen Sinne Gefallen am Streite zu finden, und wenn mein Vortrag dazu beigetragen haben kann, den Kampf für das Recht wachzurufen, so werde ich mir erlauben, ihn drucken zu lassen. Ich halte es für wichtiger, solche Punkte herauszugreifen, als Stellen, an denen jetzt schon so Viele sich abmähen, zum sovielten Male. Ich bin zu Ende. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Stürmischer, minutenlang anhaltender Beifall und Händeklatschen.)

 

Auf den anwesenden Minister Dr. Glaser und auf den Präsidenten Hye anspielend.

 

Quelle: Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft am 11.3.1872, Gerichtshalle (GH) 1872, 95ff, auch abgedruckt in: Barfuß (Hg.), 125 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft, 1992, 1ff

Wesen und Werte der Demokratie

Hans Kelsen
Demokratie ist das Schlagwort, das die Geister im 19. und 20. Jahrhundert beherrschte, so sehr, dass gar niemand ihm öffentlich entgegengetreten ist, so sehr aber auch, dass es schon seinen festen Sinn verloren hatte. Die soziale Revolution, die im Gefolge des Weltkrieges aufgetreten ist und von der Sozialdemokratie nur das soziale Streben behält, an die Stelle der Demokratie aber die Diktatur des Proletariats setzen will, nötigt uns zu einer Revision des Begriffes.

 

Die Idee der Demokratie vereinigt in sich zwei oberste Postulate der praktischen Vernunft: die Forderung nach der Freiheit und die nach der Gleichheit. Beide sind durchaus negativ. Die Freiheit verlangt, dass wir nicht beherrscht werden; die Gleichheit kann nur gewahrt werden, wenn wir uns innerhalb gewisser Grenzen beherrschen lassen. Aber nur von uns selbst! Diese Freiheit durch politische Selbstbestimmung, durch die Mitwirkung aller an dem Staatswillen, pflegt man als die antike im Gegensatz zu der germanischen zu bezeichnen, die auf absolutes Freisein vom Staate aufgebaut sei. Diese Unterscheidung ist aber nicht richtig; die sogenannte antike Auffassung ist nur der Fortschritt von der ursprünglichen zu der des staatlichen Zwangsprozesses. Der Freiheitsgedanke, der sich seinem Wesen nach gegen die Gesellschaft stellt, wird unbewußt zum Ausdrucke für eine bestimmte Stellung des einzelnen in der Gesellschaft. Rousseau hat das Postulat der Freiheit auf das schärfste entwickelt . ihm ist der Bürger nur in dem Augenblicke frei, wo er seinen Abgeordneten wählt oder an einer Volksabstimmung teilnimmt. Und da wird er noch von der Mehrheit erdrückt dem ist aber nicht abzuhelfen. Immerhin müßte der Staat nach Rousseaus Ansicht durch Einstimmigkeit entstehen; seine Weiterentwicklung aber ist doch nur durch Mehrheitsbeschlüsse möglich. Auch derjenige, der mit der Mehrheit gestimmt hat, ist unfrei, weil er seinen Willen nicht mehr ändern kann, um so unfreier, je größer die Mehrheit ist, deren eine Abänderung der gefaßten Beschlüsse bedarf. Wenn dazu Stimmeneinhelligkeit nötig wäre, würde dasselbe Mittel, das bei der Gründung des Staates die volle Gewähr der Freiheit ist, hier zu ihrer ärgsten Fessel. Praktisch kommt jedoch fast nur die Fortbildung des Staates und somit der Grundsatz der Mehrheit in Betracht, der der Idee der Freiheit immer noch am nächsten kommt. Aus der Freiheit ist das Majoritätsprinzip abzuleiten, nicht wie es meist geschieht aus der Gleichheit. Die Gleichheit der Persönlichkeiten besteht in Wirklichkeit nicht. Sie ist nur ein Bild, darum läßt sich auch nicht sagen, daß mehr Stimmen ein größeres Gewicht haben als die wenigeren. Nur der Gedanke, daß wenn schon nicht alle doch möglichst viele mit ihrem Willen dem Willen der Gesamtheit parallel gehen sollen, kann das Übergewicht der Mehrheit rechtfertigen. Dadurch tritt der Gedanke der individuellen Freiheit, die ja doch unerreichbar ist, in den Hintergrund gegen die metaphysische Person des Staates losgelöst von den Lenkern des Staates, zu denen sie gewissermaßen in Gegensatz tritt als Wille der Gesamtheit gegenüber ihren Einzelwillen. „So verdeckt der Schleier der Staatspersonifikation das dem demokratischen Empfinden unerträgliche Faktum der Herrschaft von Mensch über Mensch.“

Daraus ergibt sich die Vorstellung, daß der Mensch nur in organischer Verbindung mit den anderen in der Staatsordnung frei ist. Rousseau meint, der Untertan gebe seine ganze Freiheit auf, um sie als Staatsbürger wieder zu erhalten. An Stelle der Freiheit des einzelnen tritt der freie Staat, in dem allein der Bürger frei sein kann. Wer sich dem Staatswillen nicht fügen will, wird letzten Endes von dem Staat gezwungen frei zu sein. Das klingt paradox, ist aber doch nur das letzte Glied der logischen Entwicklungsreihe von der Freiheit des einzelnen zum sozialen Staat.

Im Zuge derselben Entwicklung zieht sich die individuelle Freiheit auf die angeborenen und unveräußerlichen Menschen und Bürgerrechte zurück, für die die Französische Revolution die klassische Formulierung gefunden hat. Sie dienen als Schutzwall gegen den Mißbrauch der Herrschergewalt, dem der Bürger, nicht weniger als von dem absoluten Monarchen, auch von der Mehrheit, „dem König der Demokratie“, ausgesetzt ist, als Schutz der Minderheit. Dieser Schutz findet den besten Ausdruck in dem Grundsatz der Proportionalität der Gewählten zu den Wählern. Und wenn auch dann im Vertretungskörper doch die Mehrheit entscheiden muß, so ist der Einfluß der Minderheit nicht zu Unterschützen; er führt auch vielfach zu Kompromissen, die ja überhaupt die Politik der Demokratie kennzeichnen.

In ihrer letzten Konsequenz würde der Proporz das Repräsentativsystem wieder auflüsen und zur Volksabstimmung führen, die allerdings die reine und unmittelbare Demokratie wäre. In dieser Richtung bewegte sich denn auch vielfach die Tendenz schon vor dem Kriege; seither ist das Vertrauen in die Volksvertretungen noch viel mehr erschüttert worden. überall zeigt sich Interesse für Referendum und Volksinitiative; immer mehr wird die Ansicht bestritten, daß der Abgeordnete bloß Organ des Gesamtstaates sei, daß er nicht die Interessen seiner Wähler einseitig vertreten und deshalb kein imperatives Mandat annehmen dürfe. Tatsächlich bestand das imperative Mandat schon lange und mit Recht.

Im Anschlüsse an diese Ideen hat Lenin in seinen Schriften die Abschaffung des Parlamentarismus gefordert. Aber schließlich konnten auch die Bolschewiken auf eine Repräsentation nicht verzichten, so daß auch ihr Versuch keine Überwindung der Demokratie, sondern eher eine Rückkehr zu ihr ist. Gerade die kurze Mandatsdauer, die Möglichkeit jederzeitiger Abberufung der Sowjetabgeordneten, die von ihren Wählern dadurch völlig abhängen, das alles ist echte Demokratie. Was Wählerversammlungen nie vermögen, der innige Kontakt der Wähler untereinander und mit den Gewählten, das wird dadurch bewirkt, daß einzelne wirtschaftliche Betriebe oder z. B. ein Regiment, zu Wahlkörpern werden, aus denen die Lokalsowjets hervorgehen. Diese wählen die Provinzsowjets, von denen der allrussische Kongreß der Arbeiter , Bauern und Soldatenräte gewählt wird. Damit findet der Volkswille seinen besten Ausdruck und wird die größte Anpassungsfähigkeit der Vertretungskörper an den wechselnden Volkswillen erzielt. Daß bei diesem Anlaß die Arbeiter auch in die Leitung der Unternehmungen eingreifen, entspricht dem sozialistischen Organisationsprinzip. Diese demokratische Form der Sowjets war nicht von Anfang an beabsichtigt; sie ist auch nicht rein durchzuführen. Die Bauernschaft z. B. läßt sich nur territorial, nach Dörfern, in das System einfügen. Bei den wirtschaftlichen Betrieben wieder ist die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß die Politisierung den Produktionszweck beeinträchtigt. Die Erfahrungen in Rußland sind keine guten: gerade diese Mängel sind aber mit der unmittelbaren Demokratie verbunden. In fortgeschrittenen Großstaaten ist sie undurchführbar.

 

In Rußland zeigt sich eben durch die Unmittelbarkeit des Verhältnisses der Wähler zu den Gewählten eine Hypertrophie an Vertretungskörpern und das Bestreben, bis in den Einzelfall alles dort zu erledigen. Damit soll auch die Verwaltung demokratisiert und der Grundsatz von der Trennung der Gewalten aufgegeben werden. Es ist falsch, diesen Grundsatz als demokratisch anzusehen. Es ist auch nicht richtig, daß er, wie Montesquieu meinte, der englischen Verfassung entspringe. Der letzte Zweck dieses Satzes scheint zu sein, dem konstitutionellen Monarchen ein Übergewicht über die gesetzgebende Gewalt zu sichern. In den Vereinigten Staaten, wo dieses Prinzip als unantastbares Dogma gilt, ist auch die Stellung des Präsidenten, der von dem ganzen Volke gewählt und von den Vertretungskörpern unabhängig ist, durchaus nicht den demokratischen Grundsätzen entsprechend, sondern direkt dem britischen Königtum nachgebildet.

 

Der Grundsatz von der Trennung der Gewalten, der die Demokratisierung der Staaten hemmt, beruht auch innerlich auf einer unrichtigen Auffassung der Rechtsgestaltung, die sich keineswegs in der Gesetzgebung erschöpft, vielmehr bis zu der Entscheidung des einzelnen Rechtsfalles (ja zum Abschlüsse des einzelnen Rechtsgeschäftes) fortschreitet. Die sogenannte Exekutive ist demnach ein ebenso wichtiger Faktor der Rechtserzeugung wie die Legislative. Es mangelt also an dem Grunde, um diese beiden Teile eines Prozesses so scharf voneinander zu trennen. Schon in der bürgerlichen Demokratie wurde der Grundsatz durchbrochen, von oben durch die parlamentarische Regierung, von unten durch die Selbstverwaltung der Gemeinden. Auch von bürgerlicher Seite (Max Weber, Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland) wird verlangt, daß das Parlament die Verwaltung fortlaufend mitarbeitend kontrolliere. Ähnliches fordert Lenin in seinen Schriften.

Aber die Volksvertretungen sind für die Ausübung der Verwaltung wenig geeignet. Der Abgeordnete bleibt doch immer in seinem Hauptberuf; die Aufgaben der Staatsverwaltung erfordern einen ganzen Mann, der sie als Lebensberuf behandelt. Freilich sollte die Auswahl der Volksvertreter eine bessere sein; dann würde die Bürokratie nicht auch in freien Staaten jenes Übergewicht erlangen, das auf ihrer besseren Eignung für die Verwaltung beruht. Das demokratische Ideal in dieser Beziehung ist aber keineswegs für fortgeschrittene Staaten brauchbar; es wäre die Aufhebung jeder Entwicklung und politischen Differenzierung.

Die Demokratie ist ihrem Wesen nach auf einfache Verhältnisse gerichtet; der Bolschewismus verlangt in letzter Linie Abschaffung der bürokratischen Unterordnung und der Obrigkeit, also Anarchismus. Allerdings nur in der Theorie in einem Bericht an das Zentralkomitee der Arbeiter und Soldatenräte fordern Lenin und Trotzki angesichts der völligen Auflösung der Produktion die Diktatur einzelner Personen.

Hier zeigt sich der innere Widerspruch des demokratischen Problems: dem Volk, das herrschen soll, fehlt das notwendigste Erfordernis, die Einheitlichkeit der Beschaffenheit und des Willens. Wenn es einen Vertretungskörper wählt, kommen in diesem die Verschiedenheiten seiner Bestandteile, ihre Bedeutung für den Gesamtkörper nicht zur Geltung.

Undemokratisch ist die Einschränkung des Repräsentationsrechtes auf die proletarische Klasse allein, wie sie in Rußland geübt wurde, in ihren Ausstrahlungen in die übrigen Länder, die eine solche Alleinherrschaft der Arbeiterklasse nicht dulden, kommt es zu einem neuen Rückschritt, zu der ständigen Gliederung. Deren Wirkung ist noch nicht abzumessen sicher aber wird der Apparat äußerst schwerfällig, seine Tendenz geradezu auflösend. Eine moderne Demokratie braucht die möglichste Einheitlichkeit, ja Einfachheit der Organisation. Diese wird auch in der Praxis angestrebt.

Aber die Einheit des Staates ist noch lange nicht Einheit des Volkes und Volkswillens; nicht weil die Demokratie dazu weniger geeignet wäre als eine andere Form der Politik, sondern weil die Bildung des Volkswillens selbst ein ganz problematisches Phänomen ist. Die Masse des Volkes kann aus sich heraus einen Willen nicht hervorbringen; sie bedarf dazu einer führenden Persönlichkeit; so herrschen schließlich auch hier die Wenigen über die Vielen. Freilich ist gerade die Demokratie das Mittel für die bestmögliche Auslese der Führer, weil sie die breiteste Grundlage für den Wettbewerb, ja weil sie den Wettbewerb selbst schafft, und weil in diesem Kampfe nur die Führerqualitäten entscheiden, während in der autokratischen Monarchie für Ministerstellen u.dgl. oft geradezu das Gegenteil maßgebend ist. Nur daß die Führung, auch durch die Besten, dem Grundwesen der Demokratie, der Führerlosigkeit, widerstreitet. Auf die Frage, wie im Idealstaate eine Führernatur zu behandeln wäre, erwidert Sokrates in Platons Politeia, man würde ihn verehren und bewundern, aber ihn, da es einen solchen Mann im Staate nicht geben dürfe, in aller Höflichkeit über die Grenze schaffen! In Wirklichkeit ist es jedoch anders; solange das Volk nicht aus Göttern besteht, meint Rousseau, wird immer die kleinere Zahl über die größere herrschen.

Ist aber die wirkliche Gleichheit aller nicht zu erreichen, so ist es schon wertvoll, daß allen wenigstens die gleiche Möglichkeit zu allen Funktionen des Staates zu gelangen, allen die gleiche Erziehung für den Staatszweck offenstehe. Allein das liegt in der Zukunft. Gegenwärtig fehlt es dort, wo das Proletariat die Gewalt übernommen hat, an geeigneten Personen aus seiner Klasse, die befähigt wären, die Verwaltung zu führen und festzuhalten. Daraus erklärt sich nicht nur der soziale Zusammenbruch in Rußland; auch die Schwierigkeiten der sozialdemokratischen Partei in Deutschland wie in Österreich, deren Führer meist der Bourgeoisie entstammen, sind vielfach daraus zu erklären, daß sie nicht über die qualifizierten Kräfte verfügen, um sich des Regierungsapparates in ausreichendem Maße zu bemächtigen.

Auch die Abgrenzung des Begriffes „Volk“ als Träger des Staatswillens bietet große Schwierigkeit. Aus der Masse der Landesbewohner werden gewisse Gruppen wie Kinder und Geisteskranke immer, andere wie Ausländer, Frauen, Sklaven, Verbrecher je nach dem Standpunkte des Gesetzgebers, von der Mitwirkung ausgeschlossen. Und für die, denen die Rechte bleiben, muß die Fiktion der Repräsentation zu Hilfe kommen; denn in Wirklichkeit besteht politisch das Volk aus denen, die ihre politischen Rechte oder doch wenigstens das Wahlrecht zur Volksvertretung, wirklich ausüben. Dadurch kann die Demokratie zur Farce werden.

Die Auswahl der Berechtigten aus der Masse des Volkes ist der Prüfstein für die demokratische Beschaffenheit der Verfassung; ist die Anzahl zu beschränkt, so ist sie eine aristokratische. Eine objektive Begrenzung zu finden, ist schwer; Rousseaus Maßstab, daß zur Demokratie die Mitwirkung des halben Volkes genüge, ist willkürlich. Plato beschränkt seinen kommunistischen Staat auf eine bestimmte Klasse. Ebenso ist der Neokommunismus der Bolschewiken eine klassenmäßig beschränkte Demokratie, deren Radikalismus den Begriff der Demokratie aufhebt. Nicht so sehr weil sie nur den Werktätigen politische Rechte verleihen, sondern weil sie von diesen alle jene, die Lohnarbeiter beschäftigen, sowie Händler, Geistliche und Beamte der Kultusorganisationen ausschließen, dann aber, wenn die Nachrichten stimmen, weil das industrielle Proletariat gegenüber den armen Bauern (nur diese haben überhaupt Rechte) das fünffache Wahlrecht hat. Dagegen ist ein wichtiger Fortschritt zu verzeichnen, indem den (werktätigen) Ausländern die gleichen Rechte eingeräumt sind wie den Inländern. Doch kann von Demokratie keine Rede sein: Vereins und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse ist von der Verfassung nur der Arbeiterklasse, nach Berichten von sozialistischer Seite in Wirklichkeit nur den Angehörigen der herrschenden Richtung gewährleistet. Der Demokratie wird mit Bewußtsein die Diktatur entgegengesetzt, als deren Ziel die Vernichtung der Bourgeoisie proklamiert, d. h. aller jener, die sich dem sozialistischen Programm widersetzen. Das ist umso merkwürdiger, als seit Marx und Engels der theoretische Sozialismus immer darauf fußte, daß die Arbeiterklasse, im Besitze der großen Mehrheit, auf wahrhaft demokratischem Wege mit Leichtigkeit ihr Ziel erreichen werde. Die Bildung großer bürgerlicher Demokratien, wie in Westeuropa und Amerika, neuestens auch in Deutschland und Österreich, hat aber gezeigt, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht noch nicht die sozialistische Herrschaft bringt. Das Proletariat bildet eben in Wahrheit nicht die überwiegende Mehrzahl der politisch Berechtigten. Das hat nun zu der Grund-stürzenden Änderung der Politik jener Sozialisten geführt, die mit der Diktatur der Partei operieren.

Gerade solchen Bestrebungen entgegen zeigt die Demokratie ihr tiefstes Wesen, ihren höchsten Wert. Sie achtet jede Überzeugung und Meinungsäußerung; die Mehrheit bildet nicht nur die Opposition der Minderheit, sie schätzt sie und läßt sich von ihr beeinflussen. Der Relativismus in jeder Form schließt den Absolutismus aus, sowohl seitens einer Person, einer Gruppe, wie auch den eines Parteidogmas. Das Wort Stahls: „Autorität nicht Majorität“ ist das Angriffsziel aller geworden, die für die Wissenschaft und ihre Freiheit und politisch für Demokratie sind. Zwang zu Beobachtung seines Willens darf eigentlich nur der anwenden, der glaubt, sich auf überirdische Erleuchtung stützen zu können; wer aber nur menschlicher Erkenntnis die Ziele richten läßt, der kann das Mindestmaß an Zwang, das zu ihrer Erreichung unvermeidlich ist, durch die Zustimmung der Mehrheit rechtfertigen, muß aber dabei jede Rücksicht auf die Minderheit beobachten. Dem Wesen der Demokratie wohnt der politische Relativismus inne.

 

Als Jesus des Pilatus Frage, ob er der König der Juden sei, bejaht und sich dabei zu der Wahrheit bekannt hatte, fragte Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ Als er dann der Menge der Juden anheimgab, die Freilassung eines der Verurteilten zu verlangen, wählten sie Barabas, den Räuber und nicht Jesus. Das Ergebnis dieser Abstimmung könnte allerdings als Einwand gegen die Demokratie gelten, aber nur dann, wenn die politischen Stürmer und Dränger ihrer Sache so gewiß sind wie der Sohn Gottes! (Lebhafter Beifall.)

 

Quelle: Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft am 5.11.1919, JBl 1919, 378ff, auch abgedruckt in: Barfuß (Hg.), 125 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft, 1992, 85ff